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Zionismus ist nicht Judentum – Jüdische Kritik an der IHRA-Definition

Zionismus ist nicht Judentum – Jüdische Kritik an der IHRA-Definition

Update: 2025-10-23
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Während in Israel selbst hunderte kritische Stimmen gegen die Regierung Netanjahu protestieren und während internationale Gerichte über mutmaßliche Kriegsverbrechen verhandeln, wächst in Deutschland ein innenpolitischer Konsens, der jede grundsätzliche Kritik an der israelischen Politik unter Antisemitismusverdacht stellt. Im Zentrum dieser Entwicklung steht die Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA), die seit 2017 in Bund, Ländern und Kommunen als faktische Grundlage staatlicher Antisemitismuspolitik gilt. Von Detlef Koch.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Teil I: Das neue Dogma

Seit dem 7. Oktober 2023 hat sich die politische Landschaft dramatisch verändert. Der Angriff der Hamas auf Israel und die darauffolgenden, bis heute andauernden Vergeltungsaktionen in Gaza markieren nicht nur eine neue Eskalationsstufe im zionistisch motivierten und religiös verbrämten Besatzungsterror– sie haben auch in Deutschland eine bemerkenswerte Verengung des Diskursraums zur Folge.

Zur Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA): Was ursprünglich als Schutzinstrument gegen Judenhass gedacht war, ist inzwischen zu einem normierenden Werkzeug der politischen Disziplinierung geworden – mit weitreichenden Folgen für jüdische Identitätsdebatten und die Meinungsfreiheit in Deutschland. Denn die IHRA-Definition verknüpft Antisemitismus explizit mit der „Wahrnehmung von Israel als jüdisches Kollektiv“ und macht damit Kritik an Israels Politik angreifbar. Diese semantische Verschiebung hat es ermöglicht, dass nicht nur palästinensische, muslimische oder linke Gruppen ins Visier geraten, sondern vermehrt auch jüdische Menschen selbst – sofern sie sich antizionistisch positionieren oder der israelischen Staatsräson skeptisch gegenüberstehen. Wer sich in Deutschland als Jude oder Jüdin gegen die Gleichsetzung von Zionismus und Judentum wendet, läuft Gefahr, als illoyal, selbsthassend oder sogar antisemitisch gebrandmarkt zu werden.

Dabei ist die Annahme, Zionismus sei integraler Bestandteil jüdischer Identität, historisch falsch und politisch gefährlich. Von Martin Buber über Hannah Arendt bis Judith Butler oder Ilan Pappé haben jüdische Intellektuelle immer wieder betont, dass der Zionismus eine politische Bewegung sei – nicht das Judentum selbst. Auch die rabbinische Tradition kennt zahlreiche theologische Positionen, die die Idee eines säkularen jüdischen Staates ablehnen. Dennoch hat sich in Deutschland eine Situation entwickelt, in der staatliche Stellen, Antisemitismusbeauftragte und große Medien die Deutungshoheit über das „richtige Jüdischsein“ beanspruchen – und zwar in Übereinstimmung mit einem zionistischen Paradigma.

Was hier entsteht, ist eine neue Art von Staatsdogma: Die IHRA-Definition wirkt nicht mehr nur beschreibend, sondern sogar vorschreibend. Sie definiert nicht nur, was Antisemitismus sei, sondern implizit auch, was ein „guter Jude“ zu denken und zu vertreten habe. Damit greift sie tief in die innerjüdische Pluralität ein – und normiert die politische Identität einer Minderheit durch staatliche Rahmung. Der vorliegende Artikel untersucht die historischen, juristischen und politischen Dimensionen dieser Entwicklung. Er stellt die jüdische Kritik an der IHRA-Definition vor, beleuchtet verdrängte Traditionen nicht-zionistischen Judentums und analysiert die gesellschaftlichen Folgen einer Politik, die Antisemitismusbekämpfung und Israel-Solidarität untrennbar verknüpft.

Teil II: Theorie und Kritik – Was sagt die IHRA, und was kritisieren Mann & Yona?

Die IHRA-Arbeitsdefinition von Antisemitismus wurde 2016 von der International Holocaust Remembrance Alliance verabschiedet und 2017 von der deutschen Bundesregierung zur Grundlage ihrer Antisemitismuspolitik erklärt. In ihrem Kern definiert sie Antisemitismus als „eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann“ – eine bewusst vage Formulierung, die durch elf erläuternde Beispiele konkretisiert wird. Sieben dieser Beispiele beziehen sich direkt auf den Staat Israel und seine Kritik. Dazu gehört etwa die Aussage, antisemitisch sei es, dem Staat Israel „sein Existenzrecht abzusprechen“, ihn „mit den Nazis gleichzusetzen“ oder „doppelte Standards“ anzuwenden, die von „keinem anderen demokratischen Staat erwartet werden“.[1]

Diese Formulierungen entfalten insbesondere dann Wirkkraft, wenn sie in staatliche oder institutionelle Entscheidungsprozesse übernommen werden – etwa bei Förderverträgen, Raumvergaben oder öffentlichen Äußerungen über zivilgesellschaftliche Gruppen. Juristisch ist die IHRA-Definition unverbindlich. Doch ihre politische Relevanz liegt gerade in dieser Grauzone: Sie wird von Behörden, Stiftungen, Universitäten und Kulturbetrieben als normativer Maßstab behandelt, ohne demokratisch legitimiert oder rechtlich einklagbar zu sein. Dadurch entsteht ein Instrument mit enormer Reichweite – ein faktisches Zensurpotenzial, das sich besonders gegen israelkritische Positionen richtet.

Diesen Mechanismus beschreiben Itamar Mann und Lihi Yona in ihrem grundlegenden Essay „Defending Jews from the Definition of Antisemitism“, erschienen 2024 in der UCLA Law Review.[2] Die beiden Rechtswissenschaftler analysieren die Anwendung der IHRA-Definition in den USA und zeigen, wie sie dort nicht nur die palästinensische Freiheitsbewegung, sondern auch jüdische Identitätsvielfalt bedroht. Ihre Kernthese: Die IHRA-Definition verengt das Jüdische auf eine zionistische Norm. Wer als Jude Israels Politik ablehnt, wird zunehmend als abweichend oder illoyal markiert. Die Folge ist ein juristisch gestützter Ausschluss kritischer jüdischer Stimmen[3] – eine staatlich sanktionierte Identitätsdisziplinierung.

Besonders alarmierend sei, so Mann und Yona, dass diese Entwicklung nicht nur gesellschaftlich, sondern rechtlich codiert werde: etwa durch Trumps Executive Order von 2019[4] , die Hochschulen dazu verpflichtete, antisemitische Diskriminierung auf Grundlage der IHRA-Definition zu sanktionieren. Antizionistische Positionen jüdischer Studierender wurden so zur potenziellen Rechtsverletzung umgedeutet. Die beiden Autoren zeigen, wie durch diese Verschiebung ein Schutzrahmen entsteht – aber nur für bestimmte Juden: für jene, die sich mit Israel identifizieren. Wer hingegen eine andere Vorstellung von jüdischer Zugehörigkeit hat, fällt aus dem Schutz heraus. Der Staat legt damit fest, welche Form jüdischer Identität als legitim gilt – ein Eingriff in das individuelle wie kollektive Selbstverständnis.

Im angelsächsischen Rechtsdiskurs argumentieren Mann und Yona zudem mit einem originellen rechtstheoretischen Konzept: dem der „jurispathischen“ Rechtsanwendung, angelehnt an Robert Cover.[5] Gemeint ist ein Recht, das Pluralität nicht schützt, sondern vernichtet – indem es komplexe kulturelle Narrative (wie etwa die Vielzahl jüdischer Identitätsformen) auf einen einzigen Standard reduziert. Dieses Recht wird nicht ausgehandelt, sondern gesetzt. Genau das geschehe, wenn Zionismus zum Maßstab jüdischer Zugehörigkeit erhoben werde. Das Resultat: Jüdische Israelkritiker verlieren nicht nur Räume und Rechte, sondern auch ihre institutionelle Existenz als Juden.

Die Autoren schlagen rechtliche Gegenmodelle vor: So könnten jüdische Antizionisten in den USA unter dem Schutz der Religionsfreiheit (First Amendment, Establishment Clause) gegen staatlich favorisierte jüdisch-zionistische Narrative klagen. In Deutschland wäre dafür das Neutralitätsgebot und das Grundrecht auf Weltanschauungsfreiheit (Artikel 4 Absatz 1 Grundgesetz) einschlägig. Ein anderer Vorschlag: Antizionistische Juden, die wegen ihrer Haltung benachteiligt werden – etwa beim Zugang zu Kulturförderung oder öffentlichen Räumen – könnten rechtlich als Opfer mittelbarer Diskriminierung gelten. Denn der Ausschluss basiert letztlich nicht auf dem Was (eine israelkritische Meinung), sondern auf dem Wer: dem jüdischen Selbstverständnis, das der Staat nicht anerkennt.

Die Kritik von Mann und Yona richtet sich daher weniger gegen die Idee, Antisemitismus zu bekämpfen, sondern gegen den Versuch, Antisemitismus so zu definieren, dass nur noch eine Form jüdischer Zugehörigkeit sichtbar bleibt. Diese Sichtweise findet in Deutschland bisher wenig Resonanz – und ist doch unverzichtbar, wenn man die Dynamik verstehen will, die derzeit jüdische Dissidenten, jüdische Friedensinitiativen und jüdische Intellektuelle gleichermaßen trifft. Der Kampf gegen Antisemitismus darf nicht zur Auslöschung jüdischer Pluralität führen.

Teil III: Historischer Rückblick – Das Judentum war nie monolithisch

Die Vorstellung, es habe in der Geschichte des Judentums stets einen einheitlichen Konsens zugunsten des Zionismus gegeben, ist ein politischer Mythos. Sie lässt sich historisch weder belegen noch theologisch rechtfertigen. Vielmehr war das Verhältnis zwischen Judentum, Zionismus und Staatlichkeit seit Beginn des 20. Jahrhunderts ein umkämpftes Terrain – durchzogen von tiefen religiösen, kulturellen und politischen Gegensätzen. Die heutigen antizionistischen Positionen jüdischer Intellektueller und Organisationen stehen daher in einer langen Traditionslinie, die von orthodoxen Rabbinern über säkulare Philosophen bis hin zu Shoah-Überlebenden reicht.

Der Religionsphilosoph Martin Buber etwa setzte sich in den 1920er-Jahren mit der Bewegung Brith Schalom für einen binationalen jüdisch-arabischen Staat in Palästina ein. Martin Buber trat zeitlebens für ein demokratis

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Redaktion NachDenkSeiten