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Überwältigend und weitestgehend ungehört: „Boris Godunow“ in Frankfurt

Überwältigend und weitestgehend ungehört: „Boris Godunow“ in Frankfurt

Update: 2025-11-03
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Selten gespielte Version


Revolte und ein daraus folgender Bürgerkrieg könnte derzeit kaum aktueller sein. Das wissen viele Opernhäuser. Auch die Oper Frankfurt schließt sich mit einer Neuproduktion in der Regie von Keith Warner und unter der Leitung des jungen, gefeierten Generalmusikdirektor Thomas Guggeis an.
Das Besondere ist dabei die Fassung: Durchgesetzt hat sich die Oper zunächst in der Instrumentation und Bearbeitung von Nikolai Rimski-Korsakow, bevor man auf Mussorgskis Originalfassung zurückgegriffen hat. Auf dem Höhepunkt des Stalinismus hat aber kein geringerer als Dmitri Schostakowitsch mit handwerklicher Perfektion das Stück 1939 neu orchestriert. Diese so gut wie nie gespielte Version ist nun in Frankfurt zu entdecken.

Ein zerrütteter Zar im Fabergé-Ei


Das Machzentrum des Zaren ist ein Fabergé-Ei. Öffnet es sich, sehen wir den ziemlich zerrütteten Zaren Boris Godunow auf seinem Thron. Der Niedergang ist kaum zu übersehen, die Eischale ist finsterstes Schwarz. Wir sind mit diesem Bild fast am Ende einer Geschichtsreise in Keith Warners Inszenierung von „Boris Godunow“ an der Oper Frankfurt.
Zu Beginn wähnt man sich bei der Anrufung des Zaren und der anschließenden Krönung des Zarewitsch-Mörders in einem Russland des 19. Jahrhunderts; also jenem Zeitalter, in dem Mussorgski sein Meisterwerk komponierte.
Von Bühnen- und Kostümbildner Kaspar Glarner ist dies fabelhaft ausgestattet mit prächtigen Kostümen, Juwelen und Pelzmützen. Auch der brutale Polizeistaat Stalins um 1939/40, als Dmitri Schostakowitsch seine Neuninstrumentation der Oper vornahm, lässt sich erkennen.
Doch Warner hat mehr im Sinn: Seine Inszenierung ist eher eine Collage aus Bildmomenten: gewaltige Kirchenglocken, arenaartige Aufmarschstätten, das absurde Theater der Kneipenszene, aufeinanderprallende und dem Schützengräben entronnene Kriegstruppen vor der St. Basilius-Kathedrale, biblische Kinderheilige, die den Gottesnarren verspotten und die manipulierte Masse in der Revolutionsszene am Schluss.

Mussorgskis Geschichtspessimismus weitergedacht


Diese Oper ist immer noch eine russische Angelegenheit. Die von Mussorgski präzise verhandelte Epoche vor dem ersten russischen Bürgerkrieg im 17. Jahrhundert ist für Warner aber von überzeitlicher Relevanz. Das epische Spiel um die Macht und den Zerfall von Individuum und Gesellschaft hat bis heute seine Gültigkeit.
Der Geschichtspessimismus Mussorgskis, von Schostakowitsch als wohl bedeutendstem komponierenden Historiker der Musikgeschichte als Partitur niedergelegt, ist hier folgerichtig aus dem 19. Jahrhundert in unsere Gegenwart weitergedacht. Aus diesem schwarzen Loch der Geschichte gibt es kein Entrinnen, es ist der Kern des in düsterer Pracht glänzenden Fabergé-Eis mit dem in seinem inneren geborgenen Sitz der Macht.

Pro-ukrainische Demonstrationen vor der Oper


Diese in der Oper angelegte Folgerichtigkeit verkennen die pro-ukrainischen Demonstranten vor der Frankfurter Oper, die gegen die Aufführung dieses sehr russischen Stücks protestieren.
Hätten die Protestierenden die Aufführung besucht, hätten sie erkannt, wie wenig hier die russische Geschichte eines heraufdämmernden Bürgerkriegs verherrlicht wird. Die Klage des Gottesnarren am Ende der mehr als vierstündigen Aufführung meint das Beweinen der Geschichte, in der Macht nie gerecht, nie human und schon gar nicht schön ist.

Schostakowitsch belässt Mussorgskis Schroffheit


Mussorgski hatte seiner Partitur einen herben Anstrich gegeben, der allerdings so modern war, dass er seinen Zeitgenossen Rimsky-Korsakow zu einer mäßigenden Bearbeitung veranlasste, mit der er die klangliche Schroffheit abmilderte und in die oft beißende Harmonik eingriff.
Dmitri Schostakowitsch hat mit seiner Neuninstrumentation von 1939/40 das Beißende belassen – er selbst begegnete der Machtdespotie in Stalins Reich mit musikalischem Sarkasmus – gab der Seelenverwandtschaft dieser Oper einen raffinierteren Glanz düsterer Pracht: schärferes, abgründiges Blech, knarzendes Holz, die Todesklapper des Xylophons und die Mechanik des Glockenklaviers einer Celesta, ein Instrument, das Mussorgski noch gar nicht zur Verfügung stand.
In diesem Sinne ist diese Bearbeitung hörbar eine Zeitmaschine, die Keith Warner dann auch in der Szene mit dem Glockenspiel im Zarenzimmer des zweiten Akts als überdimensionale Projektion sichtbar macht. Wir blicken in das unerbittliche Räderwerk der Zeit, welches keine Rücksicht auf Verluste nimmt.

Schostakowitsch ergänzt Mussorgski auf Augenhöhe


Schostakowitschs so gut wie nie zu hörende Akzentuierung von Mussorgskis Geschichtspessimismus ist in Frankfurt endlich als hochrespektable Ausdeutung und klangliche Interpretation zu entdecken, die nicht die mittlerweile längst durchgesetzte Originalfassung der wohl meistgespielten russischen Oper ersetzt, sondern eine markante Ergänzung auf Augenhöhe darstellt.
Thomas Guggeis arbeitet all das am Pult des brillant spielenden Frankfurter Opern- und Museumsorchesters heraus. In den ersten beiden Teilen mit teilweise irritierend verzögernden Tempi, die es der realistischen Sprachartikulation der Stimmpartien nicht immer leicht machen.
Im letzten Teil kommt dann entsprechender Zug ins geschichtliche Geschehen. Der blutrünstige Volksaufstand artet zu einem barocken Veitstanz aus, mit dem die Zarenkinder gequält und Mönche lebendig begraben werden.

Gesangliche Höchstleistungen bis in die kleinste Rolle


Für die gewichtige Chorpartie in dieser Oper über die Zerrüttung von Macht und Volk ist der Chor der Oper Frankfurt das perfekt disponierte Ensemble. Wann hat es je eine Aufführung des „Boris Godunow“ gegeben, in der jede noch so kleine Rolle in diesem üppigen Geschichtspanorama so homogen besetzt ist, wie hier?
Die Sinnlichkeit, mit der die polnische Magnatentochter Marina Mnischek den falschen Zarewitsch um ihren Finger wickelt, ist atemberaubend. Sofija Petrović ist eine Wucht.
Und im abgefeimten Jesuiten Rangoni, den sie sadomasochistisch auspeitscht, hat sie mit Thomas Faulkner den ebenbürtigen Partner, dem auch Dimitry Golovnin mit seinem schneidend hohen, wahrhaft verrückten Tenor als Grigori Otrepjew
in nichts nachsteht. Der stimmgewaltige Andreas Bauer Kanabas ist als Mönch Pimen die personifizierte Macht der Geschichtsschreibung.

Der Frankfurter „Godunow“ ist schlicht überwältigend


Und dann ist da Alexander Tsymbalyuk, der über einen wunderschönen Bariton gebietet und die Titelpartie geradezu unheimlich verinnerlicht hat: von den Sorgen der Macht des Anfangs über den liebenden Familienvater, den zornigen Herrscher und den volksnahen Zaren bis zum wahnsinnigen Mörder des legitimen Thronfolgers.
An der Oper Frankfurt gelingt ein „Boris Godunow“, den man ganz neu hören kann. Der düsteren Pracht dieses Lehrstücks in abgründiger Geschichte kann man sich kaum entziehen. Es ist schlicht überwältigend.
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