DiscoverSWR2 Kultur AktuellAuch Nachahmung kann originell sein: Anne Serres Roman „Einer reist mit“
Auch Nachahmung kann originell sein: Anne Serres Roman „Einer reist mit“

Auch Nachahmung kann originell sein: Anne Serres Roman „Einer reist mit“

Update: 2025-11-16
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In der Musik ist die Übernahme fremder Themen – ob als Variation oder Sample – ein anerkanntes Prinzip: Das Original bleibt hörbar, wird aber durch die Interpretation Teil von etwas Neuem und Eigenständigem. In der Literatur ist diese Form der künstlerischen Hommage schwieriger zu bewerkstelligen.
Ein Zitat bleibt durch seine Anführungsstriche als Fremdkörper sichtbar und wer versucht, etwa den Tonfall von Franz Kafka zu imitieren, läuft Gefahr, sich lächerlich zu machen. 

Literatur als Spiel 


Die 1960 geborene Autorin Anne Serre gibt mit ihren Büchern eine überraschende Antwort auf das Problem literarischer Variation: Sie begreift Literatur als Spiel – mit den Lesern, vor allem aber unter Autoren, die einander, wie in einer Jonglage, bunte Bälle der Referenz zuwerfen.  
Serres liebster Spielkamerad ist der 1948 geborene spanische Romancier Enrique Vila-Matas – zuletzt auch er einer der Dauerfavoriten auf den Literaturnobelpreis. In seinen Romanen, die sich in direkter Nachbarschaft zu den Werken Jorge Luis Borges' und Roberto Bolaños bewegen, wimmelte es nur so von falschen Fährten, doppelten Böden und erfundenen Schriftstellern.
Dieses Spiel mit fiktiven Autoritäten ist nicht zuletzt immer auch ein Spiel mit dem Status des Autors selbst – und führt verlässlich die Erwartungen seiner Leser ad absurdum. 
Anne Serres 2017 erschienener Roman „Voyage avec Vila-Matas“, der nun in Patricia Klobusiczkys exzellenter Übersetzung als „Einer reist mit“ auf deutsch vorliegt, ist ihre Hommage an den spanischen Kollegen. Ein Werk, das nicht nur von ihm handelt, sondern klingt, als hätte er es selbst geschrieben.  

Ein Text wie ein freundschaftliches Zwiegespräch 


Dem ersten Anschein nach handelt es sich bei diesem Roman um einen autobiografischen Text. Auch die Erzählerin heißt Anne, auch sie wurde in Bordeaux geboren, auch sie lebt als erfolgreiche Autorin in Paris. Aber mit Schreibhemmungen. Und mit der lästigen Pflicht einer Lesereise nach Montauban. 

Jedes Mal überlege ich mir zehn verschiedene Ausflüchte, und in einem von zehn Fällen suche ich mir eine aus und sage in letzter Minute ab, auf so dramatische Weise, dass alle Welt mir glaubt, sogar ich selbst. Meine Mutter sei gerade gestorben, mein Sohn (ich bin kinderlos) sei schwer erkrankt, ich hätte entsetzliche Rückenschmerzen (diese Ausrede verwende ich aber nur im Extremfall, denn ich bin abergläubisch), gleich komme ein Klempner, um meinen kurz vor der Explosion stehenden Boiler zu reparieren. 

Quelle: Anne Serre – Einer reist mit



So leichtgängig und mündlich ist Serres Text, dass es sich anfühlt, als säßen wir tatsächlich mit Anne in ihrem Zimmer, vielleicht auf dem Bett, während sie etwas zerstreut ihre Tasche für die Reise packt und uns dabei, wie einem guten Freund, Intimes und Banales erzählte. 

Dekonstruktion von Autorenschaft 


Bei der Lektüre löst diese Intimität den Reflex autofiktionaler Interpretation aus, den Wunsch, die Autorin mit dem Geschriebenen zu identifizieren.
Eine Leseerwartung, die Serre antizipiert und mit der sie im Laufe des Romans genüsslich spielt, wenn sie etwa fiktive und echte Autoren miteinander ins Gespräch kommen lässt – und damit auf den bewährten Erzähltrick von Vila-Matas zurückgreift, der Anne wie ein literarischer Patronus durch den Roman begleitet. 

Was ich bei Vila-Matas unter anderem liebe, sagte ich, ist sein Gebrauch von Kommas, die keine Kommas sind, sondern erfundene Zitate von erfundenen Schriftstellern, wenn er seinen Satz und seine Aussage rhythmisieren möchte. ‚Wie schon XY sagte‘, schreibt er, und dieser XY trägt meist einen spanischen Namen und lebt in Südamerika, ohne dass Google oder GPS ihn je orten könnte. 

Quelle: Anne Serre – Einer reist mit



Anne Serre hat ein wunderbar heiteres und anarchisches Buch über Autorenschaft geschrieben, in dem nicht nur der heilige dokumentarische Ernst autofiktionaler Literatur in Frage gestellt wird, sondern auch das Ideal echter literarischer Originalität. Ein Buch, das zwar schwer zu beschreiben, aber leicht zu lesen ist.
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